Leseprobe aus "Wenn Rache nicht genügt" (Romananfang)

 

Für die meisten von uns ist die Familie ein Ruhepunkt, die lebensspendende Sonne, um die unser Leben kreist. Für andere ist sie der Vorhof zur Hölle oder die Hölle selbst. Gustaf Cordes zählte zur dritten Gruppe.

 

Seinen Namen hörte ich zum ersten Mal, als ich an einem feuchten Samstagnachmittag Anfang Juli durch die Heidelberger Altstadt streifte, um mir zwei oder drei Hemden der Preisklasse zu kaufen, die ich für den Berufsalltag bevorzugte. Nicht so teuer, dass ich mich ständig über das Geld ärgern musste, das sich im Alltagsstress zügig in Luft auflöste. Nicht so billig, dass ich mir von Sönnchen, meiner aufmerksamen Sekretärin, jeden Morgen ein Stirnrunzeln gefallen lassen musste. Es war ein grauer, windstiller, hartnäckig nach Regen riechender Tag, der Sommerschlussverkauf bereits in vollem Gang.

 

»Herr Gerlach!«, brüllte eine Männerstimme in meinem Rücken, als ich eines der preiswerteren Bekleidungsgeschäfte an der westlichen Hauptstraße betrat, dessen Schaufenster von oben bis unten mit alarmroten »SALE!«-Plakaten zugekleistert waren. »Das ist ja ein Ding, dass Sie mir hier einfach so über den Weg laufen!«

 

Ich unterdrückte einen Seufzer und wandte mich um. Im ersten Moment glaubte ich, seit Neuestem unter Halluzinationen zu leiden, denn hinter mir stand niemand. Erst, als ich den Blick weiter nach unten wandern ließ, entdeckte ich den Mann, dessen Körpergröße nicht zum durchdringenden Organ passte. Ich schätzte den Kerl, der mich von unten herauf unternehmungslustig anstrahlte, auf knapp einen Meter siebzig und maximal fünfzig Kilo. Und ich war mir sicher, ihm schon einmal begegnet zu sein. Und zwar in Ausübung meines Berufs. Ich wusste nur nicht, wo und wann und in welchem Zusammenhang.

 

»Ah«, sagte ich also. »Sie …?«

 

»Strohschneider«, grölte der Fremde mit dem kräftigen Organ begeistert und streckte mir mit einer sportlichen Bewegung seine knochige Rechte hin. »Jetzt wissen Sie nicht, wo Sie mich komischen Vogel hinstecken sollen, gell?«

 

Natürlich! Strohschneider war Bewährungshelfer und in seinem Job außerordentlich erfolgreich, obwohl er auf den ersten Blick nicht wirkte, als könnte er seinen Klienten, oft harte Jungs und Wiederholungstäter, Respekt einflößen. Als ich im vergangenen Jahr bei ihm war, hatte er einen mehrfach verurteilten Hundertfünfzig-Kilo-Riesen und Gewohnheitsschläger herumkommandiert wie einen verschüchterten Erstklässler.

 

»Hätten Sie ein paar Sekündchen für mich?«, fragte Strohschneider, immer noch so freudig erregt, als hätte er soeben endlich die Frau seiner Träume angesprochen. »Dann brauch ich Sie nicht anrufen. Das hatt ich nämlich eigentlich vor, Sie am Montag anrufen.«

 

Eine ausgeblichene, mehr graue als schwarze Jeans schlabberte um seine Hüften. Das blassgelbe T-Shirt mit der Aufschrift I’m not old but vintage war ihm zwei Nummern zu groß. An den Füßen trug er Sportschuhe, die schon bessere Tage gesehen hatten. Im schmalen, nachlässig rasierten Gesicht hing eine kleine Nickelbrille mit dicken Gläsern.

 

»Also, eigentlich …«, erwiderte ich zögernd.

 

Hatte er bei unserem letzten Treffen nicht geschielt? Sollte das querstehende Auge inzwischen operiert worden sein? Oder war er am Ende doch nicht der, für den ich ihn hielt?

 

»Weiß schon, es ist Samstag, und am Samstag haben Sie frei. Aber jetzt geben Sie sich halt mal einen kleinen Ruck, Herr Gerlach«, forderte er grinsend. »Tun Sie halt auch mal was für die Resozialisierung. Sie können nicht immer bloß Leute in den Knast bringen und andere dann später die Drecksarbeit machen lassen.«

 

Als ich immer noch nicht in Begeisterung ausbrach, erlosch sein Grinsen. »Ich spendier Ihnen sogar einen Kaffee. Auf meine Kosten. Sowas wie Spesen kennt man in meinem elenden Geschäft ja nicht.«

 

 

 

Bald darauf standen wir an einem Stehtisch vor einem Backshop unweit der traditionsreichen Buchhandlung. Vor mir dampfte ein doppelter Espresso, der Bewährungshelfer hatte sich von seinem schmalen Gehalt einen Latte Macchiato geleistet.

 

»Es geht um Gustaf Cordes.«

 

»Nie gehört.«

 

Mit theatralischer Geste langte er sich an den Kopf. »Logisch. Den hat ja noch ihr Vorgänger eingelocht, der Seifried.«

 

Bei der Nennung des Namens klangen wenig Sympathie und eine Menge Vorbehalte mit. Offenbar waren die beiden Männer seinerzeit nicht die besten Freunde gewesen.

 

Gustaf Cordes war vor fünf Jahren wegen schwerer Körperverletzung mit Todesfolge zu einer Haftstrafe verurteilt worden und hatte seine Strafe inzwischen abgesessen.

 

»Seit zehn Tagen ist er jetzt wieder raus.«

 

»Und wo ist das Problem?«

 

»Das Problem?« Strohschneider nippte an seinem hohen Glas, sah einer attraktiven, fülligen Rothaarigen nach, die ihn um mindestens einen Kopf überragte und in ultrakurzem Röckchen und auf rekordverdächtig hohen Absätzen in Richtung Innenstadt schnürte. Dann wandte er sich wieder mir zu. »Das Problem ist«, sagte er in einem Ton, als würde er mir ein Staatsgeheimnis anvertrauen, »er behauptet, er war’s gar nicht.«

 

Ich konnte mir ein Lachen nicht ganz verkneifen. »Unsere Gefängnisse sind überfüllt mit angeblich Unschuldigen.«

 

Er rührte mit einem langen Löffel in seinem Glas, wodurch der Latte Macchiato sich zügig in einen Café au lait verwandelte. Aus dem Inneren des Backshops wehte der Duft von frischen Brötchen.

 

»Weiß ich, Herr Gerlach, weiß ich doch auch. Aber in diesem Fall – ich bin normalerweise auch ziemlich dickfellig in so Sachen …«

 

»Sie glauben ihm?«

 

Er hörte auf zu rühren und sah mir wieder ins Gesicht. »Sagen wir, ich hab so ein Gefühl. Ja, lachen Sie ruhig. Tät ich an Ihrer Stelle wahrscheinlich auch. Aber trotzdem …«

 

Cordes hatte seinen Halbbruder erschlagen, erfuhr ich in den folgenden Minuten. Im Drogen- und Alkoholrausch, weshalb er nicht wegen Mordes verurteilt worden war. Es hatte einige Indizien gegeben, die ihn belasteten, und nach anfänglichem Leugnen hatte er die Tat schließlich gestanden. Dieses Geständnis war einer der Gründe dafür gewesen, dass der Richter eher am unteren Ende des möglichen Strafmaßes von drei bis acht Jahren geblieben war. Während der Haft hatte der junge Mann einen Drogenentzug begonnen und auch durchgehalten und sich im Großen und Ganzen ordentlich aufgeführt, so dass er eigentlich lange vor der Zeit auf Bewährung hätte entlassen werden können. Da er jedoch schon wenige Wochen nach seinem Haftantritt begonnen hatte, seine Unschuld zu beteuern und Protestbriefe und Eingaben an alle Welt zu schreiben, hatte er seine Strafe wegen mangelnder Schuldeinsicht bis zum bitteren Ende absitzen müssen. 

 

»Soweit klar.« Ich leerte mein Tässchen, stellte es mit demonstrativer Endgültigkeit auf den Teller zurück. »Aber ich verstehe immer noch nicht, was mich das alles an gehen soll.«

 

Strohschneiders Interesse galt vorübergehend einer kleinen Blonden, die ihre Ähnlichkeit mit Marilyn Monroe bewusst zu pflegen schien. »Dass Sie mal mit dem Gusti reden«, sagte er, als auch diese Ablenkung außer Sicht war. »Dass Sie sich eine Viertelstunde Zeit nehmen und seine Geschichte anhören. Das ist alles, worum ich Sie bitte.«

 

»Was sollte dabei herauskommen?« Marilyn kam schon wieder zurück, stöckelte mit hüpfenden Löckchen und ohne nach rechts oder links zu sehen in Richtung Bismarckplatz. »Sie wissen so gut wie ich …«

 

Der Bewährungshelfer erwachte wieder aus seiner Andacht, seufzte so tief, als hätte er den Ausgang des Gesprächs vorhergesehen und leerte sein Glas. »Klar weiß ich. Ich kenn auch die Gesetze. Aber irgendwie …« Er zuckte die schmalen Achseln. »Herrgott, ich will mir halt später nicht vorwerfen müssen, irgendwas versäumt zu haben, wenn …«

 

»Wenn was? Fürchten Sie, er könnte sich was antun?«

 

Er stierte in sein leeres, mit bräunlichem Milchschaum verschmiertes Glas. In der Ferne verklang das Tackern von Marilyns Absätzen. »Wissen Sie, ich komm einfach nicht mehr an den Knaben ran. Hab ihn während der Haftzeit betreut, und eigentlich haben wir immer ein prima Verhältnis gehabt. Aber seit er raus ist, vielleicht wirft er wieder irgendwas ein, was weiß ich, und eigentlich würd’s mich ja auch gar nichts angehen, schließlich ist er nicht auf Bewährung.«

 

Um der Sache ein Ende zu machen, versprach ich, mir die Angelegenheit durch den Kopf gehen zu lassen und Strohschneider im Lauf der kommenden Woche anzurufen.

 

Meinen Espresso bezahlte ich vorsichtshalber selbst.