Leseprobe aus "Der Commissario und die Dottoressa - Sturm über Elba"

 

Die Wolken rasten dahin wie eine Büffelherde auf panischer Flucht. Tintenschwarz, drohend und so tief hingen sie über der aufgepeitschten See, als wollten sie jeden Augenblick darin versinken. Die Gischt spritzte meterhoch und flog sogar hin und wieder über das Dach des kleinen Toyota, der über die Küstenstraße nach Portoferraio jagte.
Der Mann hinter dem Steuer zog den Kopf ein, als eine besonders hohe Woge einen Schwall Wasser gegen das Blech warf und eine Sturmbö seinen Wagen um ein Haar von der Straße gefegt hätte. Er umklammerte das Lenkrad so fest, dass seine Fingerknöchel im bläulichen Schein der Armaturenbeleuchtung weiß hervortraten. Noch zwei Kilometer. Wegen dieses Katastrophenwetters war er spät
dran, viel zu spät. Hoffentlich schaffte er es noch rechtzeitig bis zur Abfahrt der ersten Fähre. Vor wenigen Minuten hatte es endlich zu regnen aufgehört. Dennoch war die Straße stellenweise noch so überschwemmt, dass er ein ums andere Mal fürchten musste, die Reifen würde die Bodenhaftung verlieren. Jeden Moment konnte er die Kontrolle verlieren, den Steilhang hinabschlittern, auf einem Felsen aufschlagen. Ohne sich umzuwenden, tastete er nach dem Aktenkoffer auf dem Rücksitz, als könnte dieser sich während der Fahrt in Luft aufgelöst haben. Doch der unscheinbare schwarze Koffer lag immer noch dort, wo er ihn hingelegt hatte. Der Fahrer entspannte sich ein wenig, versuchte, nicht mehr an das schreckliche Wetter zu denken, sondern an seine Zukunft, an all die Möglichkeiten, die das Leben ihm auf einmal bot. Bis zum nächsten Brecher, der die schmale, kurvige, an vielen Stellen schlecht befestigte Straße kurzzeitig in einen wild schäumenden Gebirgsbach verwandelte. Wieder blitzten die Scheinwerfer im Rückspiegel auf. Der andere war immer noch hinter ihm, hatte es offenbar genauso eilig wie er, wollte vielleicht auch die Sechs-Uhr-Fähre erreichen. Oder verfolgte er ihn etwa ? War es möglich, dass seine Flucht schon entdeckt worden war ?

Der Mann im Toyota fluchte lauthals, stieg so heftig auf die Bremse, dass der Wagen kurz schlingerte. Vor ihm stand die Straße  zentimetertief unter Wasser, es rauschte und spritzte, dann hatte er die Stelle hinter sich und konnte wieder Gas geben. Er schoss am  schwärzlichen Dickicht der Macchia vorbei, die die nur schwach besiedelten Hänge an der Nordküste Elbas großenteils bedeckte. Eigentlich hatte er gedacht, er hätte den Wagen hinter sich längst abgeschüttelt. Schon, als er am Campingplatz bei Acquaviva vorbeiraste, hatte er das zuckende und tanzende Licht hinter sich bemerkt. Ein großer Wagen schien es zu sein, ein teurer Wagen. Mühsam kämpfte er die Angst nieder, die ihm die Luft abschnürte, warf erneut einen Blick in den Rückspiegel. Das Scheinwerferlicht war verschwunden. Er atmete auf.

Endlich erreichte er Portoferraios Stadtgrenze. Hier herrschte plötzlich reger Verkehr, besonders auf der Gegenfahrbahn. Gab es seit Neuestem auch eine Fähre, die vor sechs Uhr morgens anlegte? Mit viel zu hoher Geschwindigkeit passierte er das Industriegebiet, bog schlingernd in die Zufahrt zum Hafen, sah die Fähre am Pier liegen, Gott sei Dank. Er bremste hart, aber … Aber was war das ?
Normalerweise sollte hier jetzt eine lange Schlange von wartenden Fahrzeugen stehen, Berufspendler, die aufs Festland übersetzen wollten. Doch da war niemand, die Schranke an der Zufahrt war geschlossen, die Ampeln alle rot und …
Und die Fähre war dunkel !
Wie ein Schlag in die Magengrube traf ihn die Erkenntnis : Der Fährbetrieb war wegen des Unwetters bis auf Weiteres eingestellt. Die Autos, die ihm vorhin entgegengekommen waren, gehörten Menschen, die wie er selbst am Morgen weder Nachrichten gehört noch ins Internet geschaut hatten.
Langsam, ratlos und in schon wieder hochkochender Panik fuhr er weiter, fand am Rand der Altstadt einen Parkplatz auf der dem Meer abgewandten Straßenseite. Was war er nur für ein Idiot ! Es war ja nicht das erste Mal, dass die Fähren nicht ausliefen. Das geschah mehrmals pro Jahr.Er hätte es wissen können, verdammt ! Er hätte es wissen müssen.
Was nun ?, fragte er sich, als er wie gelähmt bei ausgeschaltetem Motor im Wagen saß. Die Wellen in der sonst so ruhigen Hafenbucht schäumten und spritzten, als würden übermütige Seeungeheuer ihr Morgenbad darin nehmen. Der kleine Leuchtturm an der Molo del Gallo hingegen blinkte so friedlich und verlässlich, als wäre alles in bester Ordnung. Erneut fluchte der Mann im Toyota, duckte sich. Ein Wagen kam langsam die Straße entlang, als hielte der Fahrer nach irgendetwas oder irgendjemandem Ausschau. Ein Mercedes, dessen Stern im Licht der heftig schaukelnden Straßenbeleuchtung aufblitzte. Noch hatte der andere ihn nicht entdeckt. Zufällig hatte er an einer Stelle geparkt, wo die Straßenlaterne kaputt war. Rasch zerrte er den Aktenkoffer und seine Steppjacke vom Rücksitz, riss die Tür auf, die der Sturm ihm wütend entgegenschlug, lief davon, zog dabei die Jacke über. Die Reisetasche mit seinen wenigen Habseligkeiten würde er später holen. Falls es ein Später für ihn geben sollte.

...

 

Er hörte Schritte den halb zerstörten Platt

enweg herunterkommen, dann eine helle Frauenstimme rufen: »Herr Berensen? Hallo?«
Ein Mensch, der Deutsch sprach ! Sollte das Schicksal es doch noch einmal gut mit ihm meinen? Da kam sie auch schon um die Ecke, spähte durch die wandhohen Fenster ins Wohnzimmer, erblickte ihn, verharrte kurz. Die Besucherin war nicht annähernd so attraktiv
und schick gekleidet wie Violetta, ungeschminkt und einen halben Kopf kleiner. Zögernd ging sie weiter bis zur offen stehenden Terrassentür, schaute herein. »Darf ich?«
»Ja, klar«
Ächzend erhob Hagen sich vom Sofa, sah sie fragend an. Sie trat ein, blieb zwei Schritte hinter der Tür stehen, musterte ihn von oben bis unten mit unverhohlenem Widerwillen. »Sie suchen eine Haushälterin«, sagte sie so kühl, als wäre diese Feststellung der Beginn eines Verhörs.
»Das … äh … stimmt, ja.«
»Eine, die Deutsch spricht.«
»Wie haben Sie mich gefunden ?«
»Sie haben in Porto Azzurro einen Aushang gemacht, beim Coop. Ist die Stelle etwa schon vergeben?«
Ihre Frage klang, als hoffte sie auf ein Ja.
»Auf dem Zettel steht nur meine Handynummer. Wieso haben Sie nicht angerufen? «

»Sie gehen ja nicht ran.«
Weil das blöde Ding immer noch im Ferrari lag, richtig.
»Und wie haben Sie mich gefunden, ich meine, ohne Adresse?«
Jetzt lachte sie, strich sich die rabenschwarzen Ponyfransen aus der Stirn. »Sie sind in Porto Azzurro bekannt wie ein bunter Hund, Herr Berensen. Der verrückte Deutsche, der sich diese abbruchreife Betonkiste hier hat andrehen lassen, die beim nächsten großen Regen wahrscheinlich mit allem Drum und Dran ins Meer rutschen wird. Der im Hafen eine Zwölf-Meter-Jacht liegen hat, mit der er nie
fährt. Wollen Sie noch mehr hören?«
Hagen schwieg. Ein hübsches, herzförmiges Gesicht hatte sie. Und einen verteufelt wachen Blick unter ebenfalls tiefschwarzen Brauen.
»Sie hätten Interesse an dem Job?«
»Was denken Sie, weshalb ich hier bin?«
»Können Sie putzen?«
»Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?«
»Können Sie kochen?«
»Für den Hausgebrauch reicht es.«
»Sie sind Italienerin?«
»Ja, sicher.«
»Wieso können Sie dann so gut Deutsch?«
»Weil ich in Frankfurt elf Semester Psychologie studiert und später viele Jahre gearbeitet habe.«
»Und dann wollen Sie hier …? Ich meine, als Psychologin und so?«
»Von Wollen ist keine Rede. Ich brauche einen Job, weil ich Geld brauche.«
»Und sobald Sie was Besseres finden, sind Sie wieder weg.«
»Natürlich. Sehe ich aus wie eine Putzfrau?«
»Auf den Mund gefallen sind Sie jedenfalls nicht.«
»Wäre das Teil der Stellenausschreibung, dass man beziehungsweise frau auf den Mund gefallen sein muss?«, fragte sie, ohne mit der Wimper zu zucken.
Es entstand eine längere Pause, in der sie sich misstrauisch beäugten. Das Meer rauschte, eine Möwe schrie klagend.
»Was hatten Sie sich denn so vorgestellt – finanziell, meine ich ? «, fragte Hagen schließlich.
»Fünfundzwanzig die Stunde?«, antwortete sie wie aus der Pistole geschossen.
»Lire?«, konnte er sich nicht verkneifen zu fragen, aber sie ging auf seinen kleinen Scherz nicht ein, schien überhaupt eher von der humorlosen Sorte zu sein. Andererseits war sie die Erste, die Deutsch sprach. »Ihren Vorgängerinnen habe ich zehn bezahlt, und schon das ist viel für die Gegend hier. Ich bin zwar Deutscher, aber komplett verblödet bin ich nicht.«
»Wenn Sie das sagen …«
»Sie mögen keine Deutschen?«
»Merkt man das?«
Es war eindeutig – die arrogante Psychozicke war hier, um sich für einen Job zu bewerben, den sie auf keinen Fall haben wollte. Vermutlich würde sie ihn am Ende ein Formular unterschreiben lassen, womit sie beim Arbeitsamt beweisen konnte, dass sie sich beworben hatte. Falls es so etwas wie ein Arbeitsamt auf dieser gottverlassenen Insel überhaupt gab.
»Okay«, sagte er gedehnt und sah ihr mit festem Blick ins Gesicht. »Dann also fünfundzwanzig. Mit zwei Wochen Probezeit.«
Er genoss es, zu beobachten, wie ihre selbstbewusste Miene zerbröselte. Mit dieser Wendung hatte sie offenkundig nicht gerechnet.
Nur um sie zu ärgern, setzte er noch einen drauf :

»Sechs Stunden am Tag, sechs Tage die Woche, Dienstbeginn pünktlich neun Uhr. Und wenn ich sage, pünktlich, dann meine ich pünktlich.«

Er rechnete kurz, während sie verdattert auf ihrer schmalen Unterlippe kaute.

»Sechsmal fünfundzwanzig macht nach Adam Riese hundertfünfzig am Tag, mal sechs macht neunhundert pro Woche, richtig? Tausend Euro als Vorschuss, wäre das okay für Sie?«
Sie schnurrte regelrecht zusammen, hin- und hergerissen zwischen der Perspektive, gleich mit einem hübschen Packen Scheine in der Tasche nach Hause zu fahren, und der Aussicht, sich den Rest der Woche einen Wolf zu ärgern, weil sie sein Angebot ausgeschlagen hatte.
»Okay«, sagte sie schließlich noch gedehnter als er.
»Und … Wann fange ich an?«
»Wie wär’s mit jetzt?«
»Das geht nicht. Weil … Nein, das geht nicht.«
»Dann morgen. Um neun. Pünktlich. Warten Sie, ich hole rasch das Geld.«