Im kalten Licht des Morgens

Wie jeden Morgen musste ich mich auch heute wieder zwingen, langsamer zu laufen. Die Gerüche und Geräusche der erwachenden Natur wahrzunehmen, dem zaghaften Gesang der ersten Vögel zu lauschen, statt nur blind und taub durch die Landschaft zu hetzen. Im Moment war es noch angenehm kühl, aber in wenigen Minuten würde die Sonne aufgehen, und dann würde es wieder zügig warm werden. Seit Anfang Juli war kein Tropfen Regen mehr gefallen, und auch für heute hatte der Wetterbericht einen wolkenlosen Himmel und tropische Temperaturen angekündigt. Zwischen den Kiefern und Birken des Hardtwalds hing ein zarter Morgendunst, die Luft war noch klar und rein, und wären nicht unentwegt diese finsteren Gedanken in meinem Kopf herumgegeistert, hätte ich glücklich sein können. Ein schöner, gemütlich kurviger Weg am Bach entlang, hie und da Blümchen, ein Amselmännchen, das aus voller Kehle zu tirilieren begann, als wäre es mir zu Ehren.

 

»Pass doch auf, Arschloch«, maulte mich ein Radfahrer an, der mich auf dem weiß Gott nicht übertrieben schmalen Weg überholte. Verschwitzt, mit der verbissenen Miene der Kampfbiker, die glaubten, ihnen gehörte die Welt.

 

»Selber Arschloch!«, rief ich und sprang erschrocken zur Seite, obwohl er schon vorbei war.

 

Der Rüpel trug nicht die bunte Uniform der Flachland-Mountainbiker, sondern steckte in weißen Shorts und einem grauen T-Shirt. Mitte dreißig, schätzte ich, drahtige Statur, kurz geschnittenes dunkelblondes Haar, kein Helm, und auch sein Rad war keines dieser sündteuren Hightech-Geräte, auf denen viele Hobbyradler heutzutage ihrer Leidenschaft frönten. Schon war er um die nächste Kurve verschwunden, und ich hatte den Wald wieder für mich allein. Ich trabte weiter und ärgerte mich, weil mir keine originellere Beleidigung eingefallen war. So etwas wie »hirnamputierter Drahtesel-Torero« vielleicht.

 

Nebenbei ärgerte ich mich auch darüber, wie viel achtlos weggeworfenes Zeug das idyllische Bild verschandelte. Leere Bierdosen sah ich am Wegrand, Pappbecher, Papiertaschentücher, zerknülltes Butterbrotpapier. In einer Ecke des Parkplatzes bei den Spargelhöfen, wo mein Wagen stand, hatte ich großzügig bemessene Müllcontainer gesichtet. Da könnten die Leute doch eigentlich …

 

Aber nein, ich wollte mich jetzt nicht ärgern.

 

Sogar eine hübsche Sandalette mit hohem Absatz und Glitzersteinchen sah ich im Vorbeilaufen im Sand liegen. Schuhwerk, wie meine Mädchen es früher trugen, wenn sie am Samstagabend loszogen, um sich viel zu verwegen geschminkt ins Heidelberger Nachtleben zu stürzen.

 

Allmählich kamen meine Muskeln auf Betriebstemperatur, ich fand meinen Rhythmus, mein Atem ging ruhig und gleichmäßig. Doch die verlorene Sandalette ließ meinem Polizistenhirn keine Ruhe. Vielleicht, weil sie mich an meine Töchter erinnerte. Als Kriminaler denkt man ja immer gleich das Schlimmste. Wie mochte das Schühchen dorthin gekommen sein, wo es jetzt lag? Ich drehte einen U-Turn und lief zurück in Richtung Fundstelle.

 

Und was war wohl aus der Frau geworden, die den Schuh verloren hatte?, fragte ich mich. War eines der zarten Riemchen gerissen, und sie hatte den unbeschädigten Schuh in die Hand genommen, um auf Strümpfen weiterzugehen? Oder hatte jemand sie bis zum Auto getragen? Nicht weit von hier verlief die Bundesstraße. Jetzt, am frühen Sonntagmorgen, hörte ich nur selten ein Auto vorbeirauschen.

 

Ich verlangsamte meine Schritte, blieb schließlich stehen. Auch hier schwebte die hauchdünne Nebelschicht über dem friedlich gurgelnden Bach und dem taufeuchten Gras seiner Böschung.

 

Ich nahm die Sandalette in die Hand. Sie war völlig unbeschädigt und, wie es aussah, noch so gut wie nie getragen. Warum hatte die Besitzerin sie zurückgelassen? Alkohol? Drogen? Albernheit? Ratlos sah ich mich um. Rechts der Bach, links Wald, Kiefernwald mit wenig Unterholz und … was war das? Etwas lag auf der Erde, vielleicht zwanzig Schritte von mir entfernt. Ein Müllsack? Ein Pärchen, das nach einer Runde Freiluftsex selig eingeschlafen war?

 

Ich ließ das Schuhwerk fallen. Die herrinnenlose Sandalette, das merkwürdige Bündel unter den Bäumen …

 

Es war eine Frau, erkannte ich, als ich nur noch wenige Meter entfernt war. Eine schmale, vermutlich junge Frau mit nur noch einem Schuh. Sie lag auf dem Bauch. Mittelblondes, langes Haar, ein metallisch schimmerndes Kleidchen am grazilen Körper. Der kurze Rock war ein wenig hochgerutscht und legte einen knappen weinroten Slip frei. Ein silbernes, zum Kleid passendes Handtäschchen lag neben ihr auf verdorrten, spitzen Kiefernnadeln, der dünne Tragriemen hing noch an ihrem linken Arm. Die Nägel der schmalen Mädchenfinger waren blutrot lackiert und mit Flitter verziert. Kein Schmuck an den Händen, nichts an den Handgelenken.

 

Sorgsam darauf achtend, wohin ich trat, umrundete ich den leblosen Körper. Keine Spuren vernichten, ein Automatismus, der sich über Jahrzehnte in meinem Kopf festgefressen hatte. Beine und Arme waren ausgestreckt, als wäre sie im vollen Lauf gestürzt und aufs Gesicht gefallen. Spuren hin oder her, ich musste feststellen, ob die junge Frau noch lebte. Ob ich einen Rettungswagen rufen musste oder die Kollegen vom Kriminaldauerdienst.

 

Mit einem Mal fröstelte mich. Eine Gänsehaut überzog meine bloßen Arme. Das Morgenlicht schien jede Farbe verloren zu haben. Versprach plötzlich keinen heißen Sommertag mehr, sondern Frost.

 

Immer noch sorgfältig darauf achtend, wohin ich meine Füße setzte, näherte ich mich dem Körper.

 

Ging in die Hocke.

 

Fühlte am Hals.

 

Kein Puls.

 

Und soweit ich feststellen konnte, auch keine Atmung.

 

Die Frau reagierte weder auf Ansprache noch auf vorsichtiges Schütteln an der Schulter. Der Slip saß dort, wo er zu sitzen hatte, demnach hatte ich es hier wohl nicht mit einem Sexualdelikt zu tun. Soweit ich erkennen konnte, keine äußeren Verletzungen, keine Anzeichen von Gewalteinwirkung. Oder doch? Als ich ihren Kopf ein wenig zur Seite drehte, sah ich Blut an dem scharfkantigen Stein, auf dem sie mit der Stirn aufgeschlagen war. Wenig nur, aber es war eindeutig Blut. Und es war noch feucht. Der Körper war warm. Sie konnte noch nicht lange hier liegen.

 

Sollte ich sie umdrehen, um ganz sicher zu sein, dass sie nicht mehr lebte? Dass hier wirklich nichts mehr zu retten war?

 

Noch einmal tastete ich nach dem Puls.

 

Immer noch nichts.

 

Stöhnend richtete ich mich auf, und in diesem Moment erst wurde mir bewusst, dass die Vögel nicht mehr sangen. Für Sekunden war es vollkommen still, und ich hörte nur das Hämmern meines eigenen Herzschlags.

 

Ich entfernte mich rückwärts von der Toten, versuchte, meine Füße an die Stellen zu setzen, wo ich vorher schon hingetreten war. Dort, wo ihre Füße lagen, sah ich jetzt, war der Boden aufgewühlt. Fußabdrücke, die nicht von ihren zierlichen Sandaletten stammten.

 

Ich musste beide anrufen, wurde mir klar, als ich in die Gürteltasche fasste, wo normalerweise mein Handy steckte, die Rettung und meine Kollegen. Allerdings war da kein Handy. Der Akku meines Smartphones war wieder einmal leer gewesen, als ich es vorhin einstecken wollte. Von Tag zu Tag verlangte das blöde Ding öfter nach einer Steckdose. Reparieren könne man es nicht, hatte mir vor einigen Tagen ein pickliger Schnösel im Handyshop erklärt. Und das Fossil von einem Smartphone, das ich ihm entgegenhielt, sei es auch nicht wert, eine Reparatur ins Auge zu fassen. Außerdem habe er gerade heute ein sensationelles Angebot hereinbekommen …

 

Es half nichts, ich musste zum Auto zurück.

 

Dazu musste ich allerdings die Tote vorübergehend ohne Aufsicht lassen, was mir sehr widerstrebte. Wer konnte wissen, was in den zehn Minuten geschehen würde, die ich weg war? Ein Hund konnte sich an der Leiche zu schaffen machen, ein Perverser, Krähen, ein Fuchs.

 

Da! Ein Geräusch, das Quietschen einer Fahrradbremse.

 

Ein älterer Mann stieg gerade von seinem Rad. Etwas unbeholfen, da er wohl nicht mehr der Fitteste war. Doch er hielt ein Mobiltelefon in seiner Rechten. Diesen Kerl schickte mir zweifellos der Himmel.

 

Ich lief auf ihn zu, er hob den Blick, starrte mich durch seine dicke, klotzig schwarz gerahmte Brille an, als wäre ich ein Alien, der soeben vom Himmel gefallen war. Seine widerspenstigen Haare waren grau und leicht gelockt. Offenbar hatte er nicht damit gerechnet, hier um diese Uhrzeit jemanden anzutreffen. Er ließ sein noch relativ neu wirkendes Rad einfach fallen.

 

»Gut, dass Sie da sind!«, keuchte ich. »Dürfte ich kurz Ihr Handy benutzen? Ich bin Polizist, und es ist etwas Schlimmes passiert.«

 

Aus der Nähe wirkte er nicht ganz so alt, wie ich im ersten Moment gedacht hatte. Vermutlich war er nur wenig älter als ich. Er steckte in einem hellgrauen Anzug, der ihm zu groß war. Sein trauriger Bernhardinerblick und die fahle, eingefallene Haut ließen mich vermuten, dass er kein besonders komfortables Leben führte.

 

Er sah mir verständnislos ins Gesicht, dann auf sein Smartphone und schließlich wieder auf mich. Jetzt erst entdeckte er den Körper, der einige Meter von uns entfernt am Boden lag. Seine Augen wurden groß, seine Miene verfinsterte sich.

 

»Ihr Handy«, sagte ich eindringlich. »Dürfte ich bitte?«

 

Als ich die Hand nach dem Gerät ausstreckte, drückte er es an seine Brust, als fürchtete er, ich wollte es ihm wegnehmen.