Leseprobe aus "Der sanfte Hauch des Todes"

Als wir den Tatort erreichten, war es Viertel vor zwölf. Die Stelle hätte idyllischer nicht sein können. Eine kleine, verwunschene Lichtung, von hohen Buchen und lichtem Gebüsch umgeben, vielleicht dreihundert Meter von einem kleinen Wanderparkplatz am Rand der Landstraße entfernt. Von dort führte ein unbefestigter Fahrweg zu dem Ort, wo wir jetzt standen, an dessen Rändern noch vereinzelte Pfützen vom nächtlichen Regen zeugten. Die Schranke, die ich am Beginn des Wegs gesehen hatte, wirkte, als wäre sie schon sehr lange nicht mehr geschlossen worden. Das Gras auf der Lichtung wiegte sich im frischen Herbstwind. Buntes Laub lag herum, eine freundliche Sonne beschien die Szenerie, die so lieblich hätte sein können, so friedlich, wäre da nicht die Leiche gewesen.

 

Das Opfer lag exakt in der Mitte der fast kreisrunden Lichtung, an deren südlichem Rand ich zwei grob gezimmerte Bänke neben einer kleinen Feuerstelle sah. Dahinter, schon im Wald, stand eine schon ein wenig baufällige Schutzhütte mit bemoostem Dach. Aus dem Tal wehten Verkehrsgeräusche herauf. Ein schweres Motorrad blubberte, Lkws brummten, ein Pkw-Motor wurde von einem sportlichen Fahrer auf höchste Drehzahlen gejagt. Nie werde ich verstehen, wie man Gas geben als Sport ansehen kann.

 

Ein uniformierter Kollege kam eilig auf uns zu. Er wirkte erleichtert, weil er und sein Kollege nicht mehr allein waren mit dem Toten. Ich schätzte ihn auf etwa dreißig Jahre, er war athletisch gebaut, blass, aber gefasst. Wir schüttelten kurz Hände.

 

»Er hat ihm den Dings abgeschnitten«, erklärte er atemlos anstelle einer Begrüßung.

 

»Seinen was?«, fragte Vangelis mit krauser Stirn.

 

»Na«, erwiderte der Uniformierte unbehaglich. »Sie wissen schon. Daran ist er wahrscheinlich auch gestorben. Er ist verblutet, wie’s aussieht. Der Täter hat ihn ausbluten lassen wie … wie Schlachtvieh.«

 

»Gott im Himmel!« Vangelis, die sonst nicht leicht aus der Fassung zu bringen war, erblasste ebenfalls.

Wir gingen einige Schritte näher an den Toten heran, bis auf etwa zehn Meter, blieben dann wieder stehen. Der obere Teil der Jeans, die der junge, kräftig gebaute Mann trug, war schwarz von Blut.

Am Oberkörper trug er einen hellgrauen Kapuzenpulli, dessen Aufdruck ich nicht lesen konnte. Am linken Fuß sah ich einen weißen, noch relativ neuen Sportschuh von einer der teureren Marken, am rechten nur eine rote Socke.

 

Rund um den Toten herum standen im Abstand von vielleicht  fünf Metern etwa zwanzig rote Grablichter, die alle noch brannten. Der Mörder hatte seine grausame Tat offenbar regelrecht inszeniert.

 

»So etwas habe ich noch nie gesehen«, flüsterte Vangelis.

 

»Ich auch nicht«, murmelte ich.

 

Bremsen quietschen in unserem Rücken, die Spurensicherung rückte an, zwei Frauen, zwei Männer. Sie sprangen aus ihrem grauen Kombi, stiegen – als führten sie eine oft geübte Pantomime auf – in ihre weißen Overalls, zogen Latexhandschuhe an, die Kapuzen über die Haare, zerrten wortlos schwere Metallkoffer aus dem Laderaum ihres Fahrzeugs.

 

Wieder wurden Hände geschüttelt, der Uniformierte wiederholte seinen knappen Bericht.

 

Der anonyme Anruf bei der Heidelberger Polizeidirektion war vor anderthalb Stunden gekommen, von einem Prepaid-Handy.

 

»Männerstimme, eher jung als alt. Hat behauptet, er sei hier spazieren gegangen und hätte eine Leiche gesehen.«

 

Vangelis zückte ihr eigenes Smartphone, tippte kurz darauf herum und gab jemandem in der Direktion mit verhaltener Stimme Anweisung, den Besitzer dieses Handy herauszufinden, das möglicherweise dem Täter selbst gehörte oder vielleicht jemandem, der seine Tat beobachtet hatte.

 

Die Spurensicherer achteten sorgfältig darauf, wohin sie ihre Füße setzten, um nichts zu übersehen, keine Spuren zu zerstören. Eine der Frauen begann, aus allen denkbaren Perspektiven Fotos zu schießen. Das nächste Fahrzeug brummte heran. Der Arzt.

 

Auch er wurde begrüßt, Vangelis und der überraschend junge, schmale Mann mit runder Nickelbrille und Intellektuellenstirn schienen sich von früheren Begegnungen dieser Art zu kennen.

 

»Hier laufen doch bestimmt jeden Morgen hundert Jogger vorbei«, sagte ich mit Blick auf den Weg.

 

»Das Gras steht hoch«, entgegnete Vangelis finster. »Er liegt flach am Boden. Außerdem, wer guckt beim Joggen schon in der Gegend herum?«

 

Richtig. Die meisten hatten sogar Stöpsel in den Ohren, wollten nichts hören oder sehen von ihrer Umgebung, während sie ihre Strecke liefen, die sie schon tausendmal gelaufen waren.

 

»Geben Sie mir mal die Nummer von dem unbekannten Handy«, bat ich den Kollegen, der immer noch bei uns stand, als suchte er Schutz, und nervös von einem Fuß auf den anderen trat. Er fasste in seine Hosentasche, förderte einen zerknitterten Zettel zutage.

 

»Er hat mit unterdrückter Nummer angerufen.« Er wischte sich mit der flachen Hand den Schweiß von der Stirn.

 

Die wenigsten Menschen wissen, dass bei der Polizei auch unterdrückte Nummern angezeigt werden, dass dieser billige Trick nicht überall und immer funktioniert.

 

»Ja?«, meldete sich eine mürrische Stimme nach dem dritten Tuten. »Wenn Sie wegen dem Corsa anrufen, der ist schon weg. Hab’s bloß noch nicht geschafft, die Anzeige zu …«

 

»Gerlach hier«, unterbrach ich den Wortschwall des Menschen am anderen Ende. »Kripo Heidelberg.«

 

»Äh. Polizei? Wegen dem Corsa jetzt, oder was?«

 

Noch immer war ich mir nicht im Klaren darüber, ob ich mit einer Frau oder einem Mann verbunden war.

 

»Mit wem spreche ich denn?«

 

»Ich äh … Sie sind echt von der Polizei? Und … Und was wollen Sie von mir?«

 

»Sie haben heute Morgen eine Leiche gefunden.«

 

»Wenn das ein Witz sein soll, dann ist es ein verdammt schlechter.«