Anatomie eines Mordes - Leseprobe

So einfach ist es also, zum Mörder zu werden. Ein wenig Geschrei, ein Rausch aus Adrenalin, Herzrasen und Verzweiflung, Gezappel, Angst, Wut, wirbelnde Lichter, eine kreischende Kirmes des Wahnsinns, die Todesspirale einer Achterbahn.

 

Dann lange Zeit nichts. Dunkelheit, Leere, Taubheit, Herzklopfen. Später Schwindel und Übelkeit. Inzwischen kann ich schon wieder halbwegs klar sehen. Der rote Nebel lichtet sich. Noch ist er nicht ganz verschwunden, doch es wird besser und besser.

 

Was ich sehe, ist nicht gut: Die Griechin ist tot.

 

Sie liegt am Boden, vor mir oder besser unter mir, und ist ganz zweifellos tot. Offenbar bin ich immer noch verwirrt, was vielleicht kein Wunder ist, in Anbetracht der Umstände. In Wirklichkeit ist sie ja gar keine Griechin, was ich allerdings erst seit Kurzem weiß. Aber ist das jetzt wichtig? Hat es eine Bedeutung für mich? Nein, ich glaube eher nicht.

 

Ich muss achtgeben.

 

Ich darf jetzt nicht über solche Nebensächlichkeiten nachdenken.

 

Natürlich ist die Nationalität dieser Toten im Augenblick vollkommen unwichtig. Wichtig ist allein, dass sie tot ist, dass sie hier vor mir, nein, unter mir liegt, auf diesem verblichenen, schmutzigen Teppich, einem traurigen Imitat eines Persers, und wirklich und ganz wahrhaftig tot ist. Ich kann das beurteilen, denn schließlich bin ich Arzt. Und zu allem Elend ist sie auch noch meine Patientin. Seit gestern Nachmittag. Seit sie meine Praxis betrat und mir dieses griechische Pillenschächtelchen auf den Tisch legte und all das andere geschah, was mich schließlich hierhergeführt hat.

 

In diese Wohnung.

 

In diese Situation.

 

In diese unbeschreibliche Katastrophe.

 

In meinem Kopf herrscht noch immer dieses Toben, die Nachwehen des Sturms von vorhin, ein Irrlichtern der Nerven, das Verglimmen der alles mit sich reißenden Erregung. Hübsche weiße Sternchen sausen durch den roten Nebel. Sieht beinahe lustig aus.

 

Mein Mund ist so trocken.

 

Nein, man braucht wahrhaftig nicht vierzehn Semester Medizin studiert zu haben, um zu erkennen, dass sie tot ist. Aus. Hin und weg.

 

Hin und weg - habe ich das nicht erst kürzlich gehört? Richtig, Penelope hat es gesagt, hin und weg sei Katharina gewesen. In einem völlig anderen Zusammenhang allerdings. Wie lange mag das her sein? Einige Stunden erst, acht oder neun. Unvorstellbar. Katharina, die jetzt tot ist. Wie vieles sich ändern kann in so kurzer Zeit.

 

Gott, ist mir schlecht.

 

In meinen Händen kribbelt es, als würden tausend Ameisen meine Adern erforschen. Ich fürchte, ich muss mich gleich übergeben. Wie meine Sprechstundenhilfe Bettina heute Morgen. Oder war es gestern? Ich weiß es nicht mehr. Ich werde darüber nachdenken. Später, wenn ich wieder denken kann.

 

Wie meine Hände zittern. Meine Gedanken wirbeln durcheinander wie altes Laub im Oktobersturm. Vermutlich bin ich im Begriff, verrückt zu werden. Wenn ich es nicht längst bin.

 

Aber das darf nicht sein. Ich muss mich zusammenreißen, die Kontrolle behalten. Sonst bin ich verloren. Nichts brauche ich im Moment dringender als meinen Verstand, denn wenn er mich nicht rettet, dann rettet mich nichts mehr.

 

Doch es gelingt mir nicht. Ich kann mich ja nicht einmal bewegen. Irgendetwas funktioniert nicht mehr in mir. Dabei ist dies doch keineswegs die erste Leiche, die ich in meinem Leben sehe, sehen muss. Ich kann mich noch gut an die Alarmstimmung im Magen und das Würgen in der Kehle bei meinem ersten Toten erinnern, damals in der Pathologie. Anatomie 1, zweites Semester, Professor Kühnle.

 

Ein Bauarbeiter, aus dem fünften Stock vom Gerüst gestürzt. Kaum äußere Verletzungen, dafür jede Menge glibberiges schwarzes Blut beim Aufschneiden. Die Diagnose war dann selbst für uns Anfänger einfach: Aortariss, nicht der schlechteste aller Tode. Sofortiger Blutdruckabfall auf null, Verlust des Bewusstseins im Bruchteil einer Sekunde – und das war‘s. Lange bevor das Nervensystem irgendwelche Alarmmeldungen an die Zentrale senden kann, ist der Film des Lebens ein für alle Mal zu Ende.

 

Diese wächserne Haut, wie ungebackener Fleischkäse.

 

Und dieser Geruch.

 

Ist mir verdammt schwer gefallen, damals. Aber das ist normal, das lässt keinen kalt, zumindest am Anfang. Hinterher habe ich stundenlang geduscht und mir noch nach Tagen eingebildet, diesen Leichengeruch an mir zu haben. War nicht schön, aber es musste sein. Da muss man eben durch, wenn man Arzt werden will.

 

Später, in der Klinik, war der Tod dann bald kein großes Thema mehr. Eine unschöne Verschlechterung der Stationsstatistik, eine kleine Beleidigung des persönlichen Ehrgeizes. Unangenehm sind jedes Mal die Angehörigen. Jemand ist ja immer da, der heult, verzweifelt, zusammenklappt. Und das tut weh. Auch nach über fünfzehn Jahren noch und Hunderten von Toten. Von Katharina weiß ich nicht einmal, ob sie überhaupt Angehörige hat. Doch, natürlich, wie konnte ich es vergessen. Zumindest zwei Verwandte hat sie in der Stadt: Penelope und deren Mann. Aber es ist äußerst unwahrscheinlich, dass ich es sein werde, der ihnen die schlimme Nachricht überbringen muss. Denn ich bin Katharinas Mörder und werde alles daran setzen, dass dieser Umstand mein Geheimnis bleibt.

 

Die Griechin – warum kann ich mir nicht abgewöhnen, sie so zu nennen? – liegt auf dem Rücken, den Kopf im Todeskampf weit nach hinten gebeugt, weg, nur weg von mir, und ich sitze auf ihrer Brust, noch immer am ganzen Leibe zitternd, die Knie auf ihren Oberarmen, um mir ihre Hände vom Leib zu halten. Ich kann nicht aufhören, dieses hässliche Kissen zu kneten, mit dem ich sie erstickt habe. Ein selten scheußliches Ding, schwarzseiden glänzend, mit bunten Stickereien darauf. Menschen in Trachten, Häuser, Tiere, Blumen. Vielleicht aus ihrer Heimat, bestimmt handgemacht.

 

Mit diesem Kissen habe ich Katharina getötet. Wann? Vor zehn Minuten? Einer halben Stunde? Ich weiß es nicht.

 

So einfach ist es also, zum Mörder zu werden.

 

Dabei habe ich sie doch kaum gekannt.

 

Ich fange an zu rechnen.

 

Statt Spuren zu verwischen, zu fliehen, meinen Hals zu retten, rechne ich. Aber immerhin, es geht, mein Kopf scheint wieder zu funktionieren, das Gehirn hat zumindest wieder eine Art Notbetrieb aufgenommen. Vor etwas mehr als zweiunddreißig Stunden war es. Damals war ich noch der angesehene Herr Doktor in mittleren Jahren mit gut gehender Praxis, attraktiver, charmanter und allseits beliebter Ehefrau, ohne Kinder – manchmal denke ich: leider –, mit standesgemäßem Wagen, Rotary-Club, allem, was dazugehört. Dazu das sinnlos große Haus am Westhang des Heiligenbergs. Seit Bettina sich einmal verplappert hat, weiß ich, dass diejenigen, die nicht das Privileg haben, dort zu wohnen, die Gegend den »Bonzenbuckel« nennen.

 

Alles wie in einem kitschigen Arztroman - und nun das hier. Nein, ich kann es nicht begreifen. Ich werde es vermutlich niemals begreifen können.