Am Ende des Zorns (Romananfang)

 

Mein erster Kontakt mit Marie war ein kräftiger Stoß in den Rücken. Mitten im Gewühl des Heidelberger Weihnachtsmarkts, abends um halb sieben, umgeben von Bratwurstgebrutzel, Glühweinschwaden, dem Duft von Tannenbäumen und gebrannten Mandeln. Während ich herumfuhr, um zu sehen, wer mich so rücksichtlos angerempelt hatte, begann nicht weit von mir mit überkippender, schriller Stimme eine Frau zu schreien.

 

»Festhalten! Sie hat mich beklaut! Halten Sie sie fest! Mein Geldbeutel, mein Geldbeutel ist weg, jetzt halten Sie das Luder doch fest um Gottes Willen!«

 

Aber bevor ich reagieren konnte, war die Diebin schon außer Reichweite. Das vielleicht zehn-, maximal zwölfjährige Kind, das ich nur noch von hinten sah, war wie ein Junge gekleidet. Bluejeans, registrierte mein Polizistenhirn automatisch, billige, schmutzig-orangefarbene Steppjacke, die Kapuze tief in die Stirn gezogen. Wie ein quecksilbriges Fischchen tauchte es durch das Getümmel schwitzender, lärmender, glühweinseliger Einheimischer und Touristen. Der Heidelberger Weihnachtsmarkt ist ja weithin bekannt und berühmt für seine romantische Kulisse.

 

Obwohl ich solche Massenveranstaltungen nicht besonders schätze, hatte ich mich an diesem Mittwochabend, eine Woche vor Heiligabend, ins Gewühl gestürzt in der Hoffnung, hier etwas zu finden, das sich als Geschenk für Sönnchen eignete. Für meine Sekretärin und unverzichtbare Ratgeberin in beruflichen und nicht selten auch privaten Angelegenheiten. Irgendeine nette, nicht allzu alberne Kleinigkeit mit lokalem Bezug, da sie ja nun mal geborene und heimatverliebte Heidelbergerin war. In den vergangenen Tagen hatte es fast ununterbrochen geregnet, heute war der erste Abend, an dem man sich wieder ins Freie traute.

 

Eine beliebte Methode vieler oft aus dem östlichen Ausland eingereister Diebesbanden war, Kinder als Taschendiebe einzusetzen. Kinder unter 14 Jahren, die nach deutschem Recht noch nicht strafmündig waren. Wurden sie erwischt, dann sprachen sie kein Wort Deutsch, wussten nicht, wie sie hießen, woher sie kamen, oder wer ihre Eltern waren. Nach ein, zwei Tagen mussten wir sie regelmäßig wieder laufen lassen. Und bald darauf waren sie meist schon wieder auf Beutezug, entweder in derselben oder einer anderen Stadt. Immer blieben die Banden nur für kurze Zeit im Land, immer wurden die Kinder begleitet und beaufsichtigt von Erwachsenen, die sie anleiteten, ihnen das Diebesgut abnahmen und sie am Ende des Tages verprügelten, wenn sie nicht genug eingebracht hatten.

 

Die bestohlene Frau stand jetzt vor mir, funkelte mich wütend an.

 

»Wieso haben Sie das Miststück denn laufenlassen, Sie Penner?«, zeterte sie. »Sie ist Ihnen doch praktisch in die Arme gelaufen, Himmel, Herrgott noch mal. In meinem Geldbeutel sind fast zweihundert Euro, und die sind jetzt futsch. Dazu Ausweis, Karten und Herrgott, ich weiß gar nicht, was noch alles, und Sie lassen das Miststück einfach laufen, Sie Schnarchsack, Sie kreuzblöder.«

 

Sie verstummte kurz, um Luft zu holen für die Fortsetzung ihrer Tirade. Ihre Kleidung war gepflegter als ihre Ausdrucksweise, der dunkle, elegant geschnittene Wollmantel mit echtem Pelzkragen zeugte von Wohlstand. Am Arm trug sie eine große, offene Handtasche, in der vor wenigen Sekunden vermutlich noch das jetzt vermisste Portemonnaie gelegen hatte.

 

»Machen Sie vielleicht gemeinsame Sache mit dem Miststück? Haben Sie jetzt meinen Geldbeutel? So machen die Taschendiebe das ja für gewöhnlich, sieht man doch ständig im Fernsehen.«

 

Zweihundert Euro – heute Abend würde es wohl keine Schläge geben für die kleine Diebin.

 

Andere gesellten sich zu dem empörten Opfer, musterten mich finster, manche neugierig, andere schon drohend. Ich hörte Sätze wie: »Sieht gar nicht aus, als hätt er es nötig …«, »Diese Jugend heutzutage …«, »Jetzt sogar schon Kinder …«, »Hat’s doch früher nicht gegeben«, »Bestimmt wieder Ausländer …«.

 

Ich versuchte, mir Gehör zu verschaffen, aber ein älterer Herr mit Silberhaar und Goldzahn schnitt mir das Wort ab und winkte entschlossen jemanden herbei.

 

»He, Sie an! Kommen Sie doch mal rasch her, ja?«

 

Augenblicke später stand ich zwei uniformierten Polizisten gegenüber.

 

»Was ist passiert?«, fragte der ältere der beiden gemütlich in die Runde.

 

»Diese Dame ist soeben bestohlen worden«, erklärte der Silberhaarige empört, »und wir vermuten, dass dieser … Herr hier gemeinsame Sache mit der Diebin macht.«

 

Der Kollege grinste mich an, wandte sich dann wieder dem aufgebrachten Wortführer zu, dessen Gesichtsfarbe einen nahenden Schlaganfall fürchten ließ.

 

»Das glaub ich jetzt eigentlich nicht.«

 

»Darf man erfahren, aus welchem Grund Sie das nicht glauben …?«

 

»Weil ich den Herrn zufällig gut kenne. Das ist nämlich unser Herr Gerlach.«

 

»Es ist mir völlig wurscht, wie der Mann heißt. Ich verlange, dass sie ihn auf der Stelle und vor Zeugen durchsuchen.««

 

Der Kollege hörte auf zu grinsen. »Das werden wir schön bleiben lassen. Der Herr Gerlach ist nämlich der Chef von unserer Kripo. Wir verdienen zwar nicht besonders viel bei der Polizei, aber so arm sind wir dann auch wieder nicht, dass wir stehlen müssen, gell Herr Kriminaloberrat?«

 

»Kann ich dann jetzt gleich hier meine Anzeige aufgeben?«, wollte die bestohlene Frau nach kurzer Verblüffung wissen.

 

»Das erledigen die beiden Kollegen«, erwiderte ich verbindlich. »Und keine Sorge, Taschendiebe sind normalerweise nur auf Geld aus. Ihren Geldbeutel und den restlichen Inhalt können Sie bestimmt noch vor Weihnachten beim Fundbüro abholen.«